Die Prüfung von Software-Erfindungen durch das Europäische Patentamt
Im Laufe der letzten 15 Jahren hat die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA den pragmatischen Aufgabe/Lösungs-Ansatz zur Prüfung von Patentansprüchen auf erfinderische Tätigkeit entwickelt, dessen großer Vorteil die objektiven und nachvollziehbaren Prüfungsmaßstäbe sind. Dies schafft Rechtssicherheit, da sich im Zweifelsfall auch das EPA an diesen Prüfungsmaßstäben festhalten lassen muss. Eine Darstellung der Entwicklung der Rechtssprechung der Beschwerdekammern im Zusammenhang mit Software-basierten Erfindungen findet sich auf ksnh::law (in English).
Der Aufgabe/Lösungs-Ansatz. Gemäß den Prüfungsrichtlinien des EPA, Abschnitt C, IV, 11.5, gliedert sich der Aufgabe/Lösungs-Ansatz grob in die folgenden drei Phasen:
- Ermittlung des “nächstliegenden Standes der Technik” und Identifizieren der Unterscheidungsmerkmale der Erfindung gegenüber dem ermittelten Stand der Technik (vgl. hier),
- Formulierung der zu lösenden objektiven technischen Aufgabe basierend auf den identifizierten Unterscheidungsmerkmalen (vgl. hier),
- Prüfung, ob die Erfindung angesichts des nächstliegenden Standes der Technik und der objektiven technischen Aufgabe für den Fachmann naheliegend gewesen wäre (vgl. hier).
Sofern jedoch Ansprüche vorliegen, die sowohl technische als auch nicht-technische Merkmale aufweisen, wie es häufig bei Erfindungen der Fall ist, die Computer-gestützte Verfahren (“Software”) und insbesondere Geschäftsverfahren (“Business Methods”) betreffen, wird dieser allgemeine Ansatz geeignet erweitert, um die nicht-technischen Merkmale gebührend berücksichtigen zu können.
Der erweiterte Aufgabe/Lösungs-Ansatz. Das Ergebnis ist der nachfolgend skizzierte erweiterte Aufgabe/Lösungs-Ansatz, wie er in den Entscheidungen T 641/00 (“Comvik”, 26.09.2002) und T 258/03 (“Hitachi”, 21.04.2004) entwickelt und in der Entscheidung T 154/04 (“Duns”, 15.11.2006) theoretisch begründet wurde. All diese Entscheidungen ergingen von der Beschwerdekammer 3.5.01 unter dem Vorsitzenden Stefan Steinbrenner.
Um eine flexible Anpassung des Patentrechts an die technische Weiterentwicklung zu ermöglichen, ist der Begriff der “Erfindung” weder im deutschen noch im europäischen Patentgesetz definiert. Es gibt jeweils lediglich eine Ausschlussliste von Gegenständen, die jedenfalls keine Erfindungen und dem Patentschutz explizit nicht zugänglich sind. Diese Ausschlussliste (vgl. Art. 52 (2), (3) EPÜ und nahezu gleichlautend § 1 (3), (4) PatG) umfasst insbesondere “Pläne, Regeln und Verfahren für gedankliche Tätigkeiten, für Spiele oder für geschäftliche Tätigkeiten sowie Programme für Datenverarbeitungsanlagen als solche“.
Der Zusatz “als solche” macht deutlich, dass der Gesetzgeber bestimmten “Programmen für Datenverarbeitungsanlagen” durchaus Patentfähigkeit zubilligen sollte. Die Rechtsprechung hat daraus unter anderem aufgrund des Hinweises in Art. 52 (1) EPÜ und § 1 (1) PatG, wonach “Patente [...] für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt [werden]“, abgeleitet, dass “Programmen für Datenverarbeitungsanlagen” genau dann dem Patentschutz zugänglich sein sollen, wenn sie “technisch” sind bzw. “Technizität” aufweisen.
Auf dieser Überlegung basiert der erweiterte Aufgabe/Lösungs-Ansatz, mit dem sowohl die Technizität als auch die Neuheit und erfinderische Tätigkeit einer Erfindung beurteilt werden kann. Dieser Test kann grob in drei Prüfschritte unterteilt werden, nämlich in diejenigen nach
- der Technizität der Erfindung,
- der Neuheit der Erfindung, und
- der Erfinderischen Tätigkeit der technischen Merkmale,
wobei die Schritte a. und c. zwei Technizitätshürden bilden, die ein erteilbarer Anspruch zu überwinden hat. In Schritt a. wird die Frage nach der leicht erreichbaren weil ohne Berücksichtigung des Standes der Technik geprüften “a-priori-Technizität” gestellt, während in Schritt c. die für die Patentierbarkeit entscheidende Frage nach der “a-posteriori-Technizität” gestellt wird, die vor dem Hintergrund des Standes der Technik geprüft wird und entsprechend schwerer überwindbar ist.
Detailliertes Prüfungsschema. Ausführlicher stellt sich das Prüfungsschema des erweiterten Aufgabe/Lösungs-Ansatzes wie folgt dar:
- Prüfe, ob die beanspruchte Erfindung als ganzes Technizität aufweist? (obiger Schritt a). Hierbei gilt, dass
- der Standes der Technik nicht berücksichtigt wird (deshalb “a-priori“),
- Neuheit/erfinderische Tätigkeit der Erfindung jedenfalls hier unerheblich sind,
- das einfachste technische Merkmal genügt, um die a-priori Technizität herzustellen (z.B. Bezugnahme auf eine technische Vorrichtung zur Ausführung des Verfahrens).
- Falls die Erfindung durch sowohl technische als auch nicht-technischen Merkmale definiert ist,
- Identifiziere die nicht-technischen Merkmale,
- Ermittle daraus und aus den entsprechenden Passagen der Bescheibung den nicht-technischen Kontext der Erfindung,
- der, wie alles nicht-technische, als per se bekannt vorausgesetzt wird und
- den der Fachmann bei der Prüfung auf erfinderischen Tätigkeit berücksichtigen kann, auch wenn die betreffenden Merkmale tatsächlich neu sein sollten.
- Bestimme den nächstliegenden Stand der Technik (nStdT) der Erfindung
- Bestimme die einzelnen technischen Merkmale das Anspruchs,
- Ermittle einen schriftlichen Nachweis des nStdT basierend auf nur den technischen Merkmalen, wobei jedoch
- Identifiziere die Unterscheidungsmerkmale zwischen der Erfindung und dem nStdT,
- falls es keine Unterschiede gibt ist die Erfindung nicht neu (Art. 54EPÜ),
- falls es nur nicht-technische Unterschiede gibt ist die Erfindung nicht erfinderisch (Art. 56 EPÜ).
- Formuliere die objektive technische Aufgabe der Erfindung basierend auf den technischen Unterscheidungsmerkmalen der Erfindung (obiger Schritt c.), wobei
- der nicht-technische Kontext der Erfindung bei der Formulierung der Aufgabe verwendet wird (z.B. nicht-technischen Zweckangaben wie z.B. “zur Verkaufsförderung”).
- Prüfe, ob ausgehend von der technischen Aufgabe erfinderischen Tätigkeit vorliegt.
Der Kern des Prüfungsschemas. Die Besonderheit dieses Prüfungsschemas für Erfindungen, die durch gemische Ansprüche definiert werden, also solche Ansprüche, die sowohl technische als auch nicht-technische Merkmale aufweisen, liegt darin, dass die nicht-technischen Anspruchsmerkmale nicht einfach ignoriert werden, sondern – zum Nachteil des Anmelders (!) – bei der Formulierung der technischen Aufgabe in Form des nicht-technischen Kontexts berücksichtigt werden. Der zweite Leitsatz der Comvik-Entscheidungen T 641/00 formuliert das so:
II. Die zu lösende technische Aufgabe ist zwar nicht so zu formulieren, daß sie Lösungsansätze enthält oder die Lösung teilweise vorwegnimmt, doch scheidet ein Merkmal nur deshalb, weil es im Anspruch vorkommt, nicht automatisch für die Formulierung der Aufgabe aus. Insbesondere wenn der Anspruch auf eine Zielsetzung auf einem nichttechnischen Gebiet verweist, darf diese Zielsetzung bei der Formulierung der Aufgabe als Teil der Rahmenbedingungen für die zu lösende technische Aufgabe aufgegriffen werden, insbesondere als eine zwingend zu erfüllende Vorgabe.
Hinweis für den Patentanmelder: Daraus folgt für den Anmelder, dass bei der Formulierung einer Patentanmeldung und der Ansprüche für eine Erfindung, die auch nicht-technischen Aspekte umfasst – z.B. für ein Geschäftsverfahen, also eine wirtschaftliche oder organisatorische Anwendung einer Software-basierten Erfindung -, diese nicht-technischen Aspekte keinesfalls in die Beschreibung oder Ansprüch einfließen sollten.
Dies gilt insbesondere für etwaige nicht-technische Vorteile von eigentlich technischen Merkmalen, die im Rahmen des erweiterten Aufgabe/Lösungs-Ansatzes an sich neue und erfinderische technische Merkmale “entwerten” können. Denn die nicht-technischen Vorteil fließen, selbst wenn sie neu sind, in Form des nicht-technischen Kontexts in die objektive Aufgabe ein und können so dem Fachmann die entscheidende Motivation zur Realisierung der betreffenden technischen Merkmale verschaffen.
Die Comvik-Entscheidung als Beispiel: Die potentiell nachteilige Wirkung von nicht-technischen Angaben in der Patentanmeldung kann anhand der T 641/00 (Comvik/Zwei Identitäten) gut studiert werden, die eine selektive Aufteilung der in einem Mobilfunknetz anfallen Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern betrifft. Dort erkannte die Kammer, dass der anhängige Anspruch gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik (D8: GSM-Standard mit Teilnehmer-Kennungsmodul SIM) die folgenden neuen Merkmale aufwies:
- Dem Teilnehmer-Kennungsmodul sind zumindest zwei Kennungen zugeteilt,
- die wahlweise verwendbar sind, wobei
- die wahlweise Aktivierung zur Aufteilung der Gebühren zwischen dienstlichen und privaten Anrufen oder zwischen verschiedenen Benutzern herangezogen wird.
Das Merkmal iii. wurde jedoch als nicht-technisch beurteilt, da es nur die Gebührenaufteilung auf die verschiedenen Identitäten betrifft, z.B. zwischen dienstlichen und privaten Anrufen, und insofern auf einer rein administrativen Ebene liegen.
Die nicht-technischen Vorteile des Merkmals iii. konnten also in Form des nicht-technischen Kontexts bei der Formulierung der technischen Aufgabe berücksichtigt werden. Daraus leitete die Kammer die objektive Aufgabe ab, eine Implementierung des GSM-Systems bereitzustellen, die eine Unterscheidung zwischen Anrufen zu unterschiedlichen Zwecken oder Anrufen verschiedener Benutzer ermöglicht.
Die anspruchsgemäße Lösung dieser Aufgabe wurde dann als nicht erfinderisch beurteilt, denn der Anteil des Merkmals iii. an der objektive Aufgabe verschaffte dem Fachmann die erforderliche Motivation, um aus der D8 die Lehre zu entnehmen, eine entsprechende Zahl von GSM-Anwendungen zu implementieren (Merkmal i) und eine aktive multifunktionale SIM-Karte mit den notwendigen Befehlen für die Wahl der gewünschten Anwendung vorzusehen – und somit der gewünschten Kennung, die in einem GSM-System für die selektive Gebührenerhebung genutzt werden kann (Merkmal ii.). Das nicht-technisch Merkmal iii. trägt also zur Patentierbarkeir nicht bei, reduziert aber die “Distanz” zwischen dem Stand der Technik und der beanspruchten Erfindung bis unter die Schwelle der erfinderischen Tätigkeit.
Hypothetisches Beispiel: Noch deutlicher werden die möglichen nachteiligen Effekt von nicht-technischen Merkmalen auf die Patentierbarkeit anhand einer Registrierkasse mit einem technisch implementierten Zusatzmodul, dass bestimmte Summen vor der Ausgabe auf einem Display verändert bzw. verfälscht.
Die erfindungsgemäße Registerkasse sei neu und erfinderisch gegenüber einer herkömmlichen Registerkasse als nächstliegendem Stand der Technik. In der Beschreibung der Erfindung sei zu dem Zusatzmodul ausgeführt, dass es zur Verkaufsförderung einsetzbar sei, indem z.B. jedem 100-sten Kunden ein 10%-iger Preisnachlasses gewährt wird und so Kunden angelockt und zum Einkauf veranlasst werden.
Da die Verkaufsförderung jedoch Teil des nicht-technischen Kontexts ist, ist die Erfindung naheliegend, denn ein Fachmann, der sich vor die Aufgabe gestellt sieht, Kunden durch Preisnachlässe anzulocken, würde eine herkömmliche Registerkasse ohne weiteres mit den betreffenden Zusatzmodul ausstatten. Ohne die Erläuterungen zur Verkaufsförderung in der Beschreibung wäre die Registrierkasse mit Zusatzmodul jedoch patentierbar gewesen.
(Photo 2003 JamesIrwin via Flickr unter einer CC Lizenz)
Volker Metzler
Patentanwalt, European Patent Attorney, European Trademark and Design Attorney, Informatiker, Blogger, Partner von k/s/n/h
Das k/s/n/h :: jur Blog
Hier erörtern Anwälte von KSNH Fragen mit Bezug zu gewerblichen Schutz- rechten und deren wirtschaftliche Bedeutung im Unternehmen. Neben juristischen Fragen wird dabei auch die sinnvolle betriebliche Einbettung von Schutzrechtsstrategien angesprochen.
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