Es gehört zu den Routineaufgaben eines Patentanwaltes, die Frage zu beantworten, ob ein bestimmtes Produkt oder Verfahren einen Patentanspruch eines erteilten Patentes verletzt. Grob gesagt, besteht jeder Patentanspruch aus einem Gattungsbergriff und einer Liste von Merkmalen. Zu prüfen ist, ob der Gattungsbegriff und die einzelnen Merkmale in dem zu Grunde gelegten Produkt oder Verfahren verwirklicht sind. Dabei sind regelmäßig drei Stufen der Interpretation von Patentansprüchen zu unterscheiden:

  • Die wortsinngemäße Patentverletzung ist gegeben, wenn alle Merkmale des Patentanspruches so verwirklicht sind, wie sie nach den im Rahmen der Auslegung des Anspruchswortlautes durch eine Person mit Fachkenntnissen gewonnenen Erkenntnissen zu verstehen sind. Allein entscheidend ist hierbei der technische Sinngehalt des Wortlautes, nicht die philologische Wortbedeutung außerhalb eines technischen Verständnishorizontes.
  • Äquivalente Patentverletzung: Der Schutzbereich eines Patentanspruches erstreckt sich in manchen Jurisdiktionen – darunter beispielsweise auch in Deutschland – nicht nur auf dem Wortsinn entsprechende Produkte oder Verfahren, sondern darüber hinaus auch auf abweichende Ausführungen, wenn eine Person mit Fachkenntnissen aufgrund von Überlegungen, die am Sinngehalt des Anspruches anknüpfen, die bei der betrachteten Verletzungsform eingesetzten abgewandelten Mittel mit Hilfe ihrer Fachkenntnisse zur Lösung des der patentierten Erfindung zugrundeliegenden Problems als gleichwirkend (“äquivalent”) auffinden konnte.
  • Mittelbare Patentverletzung: Der Schutzbereich eines Patentanspruches umfaßt in zahlreichen Jurisdiktionen – darunter auch in Deutschland – Produkte, die sich auf ein wesentliches Element der Erfindung beziehen, wenn derjenige, der ein Produkt anbietet oder liefert, weiß oder es auf Grund der Umstände offensichtlich ist, daß dieses Produkt dazu geeignet und bestimmt sind, für die Benutzung der Erfindung verwendet zu werden.

Bei der Erstellung eines Patentverletzungsgutachtens sind im Normalfall alle drei Verletzungsarten durtchzuprüfen.

Soweit zur Routinearbeit.

Die oben grob skizzierten Arbeitspakete sind dann klar umrissen, wenn ein bestimmtes Patent zur Begutachtung auf dem Tisch liegt. Das fragliche Produkt oder Verfahren ist soweit zu analysieren, dass seine Bezüge zu dem Patent beschreibbar werden, und für jeden einzelnen Patentanspruch im Patent sind dann die angegebenen Verletzungsarten zu prüfen. Juristische Erbsenzählerei, wenn man so will.

Aber in der Realität ist die Ausgangslage häufig so, dass auf Seiten des Auftraggebers überhaupt noch keine Klarheit darüber besteht, ob es überhaupt Patente gibt, die durch ein bestimmtes Produkt / Verfahren verletzt werden könnten.

In vielen großen Industrieländern geht die Anzahl in Kraft befindlicher Patente insgesamt und über alle Bereiche der Technik aufsummiert in die Hunderttausende. Es ist wirtschaftlich unmöglich, alle darin enthaltenen Patentansprüche in ein Gutachten einzubeziehen.

Zum Glück gibt es ein wichtiges Hilfsmittel, um die große Menge an Patenten zu strukturieren: Die Internationale Patentklassifikation (IPC). In ihr ist das Gesamtgebiet der Technik in kleinste Schubladen unterteilt. Alle Patentschriften sind in dieses System eingeordnet.

Hier ein Beispiel, um eine grobe Vorstellung von der Beschaffenheit der IPC zu vermitteln: Hinter der Patentklassifikation H02H 3/05 verbergen sich

Schutzschaltungsanordnungen zum selbsttätigen Abschalten, die unmittelbar auf ein unerwünschtes Abweichen von normalen elektrischen Betriebsbedingungen ansprechen, mit oder ohne nachfolgendes Wiedereinschalten, mit Einrichtungen zur Erhöhung der Zuverlässigkeit, z.B. Redundanzanordnungen

Man könnte nun meinen, eine Recherche nach bestimmten, der Vermarktung eines Produktes oder Verfahrens eventuell entgegenstehenden Patenten (“Freedom-to-operate”-Recherche) wäre eine einfach zu lösende Aufgabe, wenn man die dem Produkt beziehungsweise Verfahren entsprechende Patentklasse aufschlägt und in dem amtlichen Patentregister sodann alle erteilten Patente zur näheren Begutachtung auflistet, die unter jene Klasse fallen.

In der Tat geht man auch in vielen Fällen so vor. Nur: Der rechtliche Schutzumfang eines Patentanspruches macht nicht an den Klassengrenzen der Internationalen Patentklassifikation halt. Es ist beispielsweise vorstellbar, dass ein Patent in eine Klasse eingeordnet wird, die elektronischen Steuerungen für Waschmaschinen vorbehalten ist. Dennoch kann unter Umständen auch eine anderweitig klassifizierte elektronische Steuerung für eine Autowaschanlage dieses Patent verletzen, wenn der Aufbau und die Funktion der Steuerung der Autowaschanlage auf eine der drei oben aufgelisteten Weisen die Merkmale des Patentanspruches verwirklicht. Vorstellbar wären solche Konstellationen wohl vielleicht bei Erfindungen, die das Einsparen von Wasser bei Reinigungsverfahren zum Ziel haben.

In der Praxis wird man daher bei der Auswahl solcher Patente, die einer genaueren Begutachung unterzogen werden sollen, häufig nicht ausschließlich nach der Patentklassifikation vorgehen, weil dadurch relevante Patente, die unbedingt zu examinieren wären, fehlerhaft ausgeblendet werden. Andere Kriterien neben der Patentklassifikation sind beispielsweise Marktverhältnisse. Im Falle der Steuerung einer Autowaschanlage ist den beteiligten Firmen in aller Regel recht deutlich, welche Wettbewerber es gibt und welche davon im Patentbereich aktiv sind. Dann macht es Sinn, eine Namensrecherche durchzuführen und alle Patente für eine Begutachtung aufzulisten, die auf den Namen eines dieser Wettbewerber angemeldet worden sind. Ein weiteres denkbares Kriterium ist der Name eines oder mehrerer Erfinder: Wenn bekannt ist, dass ein wichtiger technologischer Durchbruch durch ein Team von Erfindern hervorgebracht worden ist, deren Namen man kennt, macht es häufig Sinn, danach zu fragen, ob diese Namen auch in späteren Patenten auf demselbem Gebiet oder auf benachbarten Gebieten auftauchen.

Alle diese Vorgehensweisen sind jedoch immer eine Art von Stochern im Nebel: Es hilft nichts, diesen Umstand nicht anerkennen zu wollen; eine vollständige, enumerative Begutachtung von Tausenden von Patenten oder gar aller Patente ist wirtschaftlich jenseits jeglicher Realisierbarkeit.

Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass es “Weltpatente” nicht gibt: Im großen und ganzen werden Patente mit Wirkung für einzelne Nationalstaaten erteilt, und auch Europa hat es bislang noch nicht geschafft, sich auf ein einheitliches Europäisches Patent zu einigen. Zwar gibt es in München ein Europäisches Patentamt (EPA), das Patente mit Wirkung für alle Staaten der EU sowie für einige Nicht-EU-Staaten (einschließlich Türkei und Schweiz) erteilen darf. Nach dem Erteilungsakt durch das EPA zerfallen diese zentral angemeldeten und geprüften Patente jedoch in nationale Patente, die nach jeweiligem nationalem Recht so wirken, als ob sie auch national angemeldet worden wären. Im Zeitalter globalisierter Märkte bedeutet das, dass “Freedom-to-operate”-Recherchen in vielen Fällen für alle relevanten Länder einzeln widerholt werden müssen.

“Freedom to operate”-Recherchen sind aus diesem Grunde stets Bestandteil des betrieblichen Risikomanagements: Kein Patentanwalt wird je ein Gutachten ausfertigen können, in dem uneingeschränkt und bedingungslos zertifiziert wird, ein im vorgelegtes Produkt oder Verfahren verletze überhaupt und nirgendwo irgendein Patent. Diese Art der Patentrecherchen muß daher immer in eine vom Auftraggeber zu veranwortende Vorgabe eingerahmt werden, welcher Kreis von Schutzrechten im Einzelnen näher betrachtet werden soll. Bei der Auswahl wird der Patentanwalt mit seiner Expertise behilflich sein. Da die finanziellen Mittel jedes Auftraggebers begrenzt sind, muß ein “cutoff”-Punkt festgelegt werden, obgleich allen Beteiligten klar ist, dass auch hinter dem auf diese Weise fixierten Recherchehorizont noch relevante Patentrechte liegen können.

Aus diesem Grunde bleibt bei jeder noch so gründlichen “Freedom-to-operate”-Recherche stets ein Restrisiko bestehen, dass dadurch entsteht, dass zur Begrenzung der Kosten der gutacherlich ausgeleuchtete Bereich im Zuge des Recherche- und Begutachtungsprojektes begrenzt worden ist. Da die Budgethoheit beim Auftraggeber liegt, muß dieser auch das verbleibende Risiko tragen.

 
Über den Autor

Axel H. Horns

Patentanwalt, European Patent & Trade Mark Attorney

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